(Kiew, 20.2.2014) Marko Drobnjakovic / AP
Vor zehn Jahren beseitigte der Euromaidan in Kiew die korrupte Regierung Janukowitsch. Es war ein Kampf um Würde, eine schmerzvolle nationale Selbstfindung – und die Basis für den Widerstand gegen Putins Aggression.
Ulrich Schmid, Berlin (Text), Dario Veréb (Bildredaktion)
7 min
So sehen echte Revolutionen aus. Barrikaden, Feuer, Nebel. Improvisierte Holzfestungen, turmhoch. Pneus, Zäune, rauchende Tonnen. Menschen in Tarnanzügen und Phantasieuniformen, mit Sturmhauben und Skibrillen, Schildern und Eisenstangen. Trommeln, Trompeten, Pauken. Bärtige Revolutionäre vor Zelten mit den Wimpeln solidarischer Städte der weiten Ukraine: Sumi, Cherson, Donezk, Odessa, Lwiw.
Eine autoritäre Kleptokratie
Was sich im Zentrum Kiews zum Jahreswechsel 2013/14 abspielt, hat das Europa des 21.Jahrhunderts noch nicht gesehen. Prowestliche Ukrainer haben sich erhoben gegen ihre Regenten. Sie verspotten sie, klagen sie an, verjagen sie.
Unmittelbarer Auslöser des Aufstands ist die Weigerung der Regierung am 21.November 2013, das lange vorbereitete Assoziations- und Handelsabkommen mit der EU zu unterzeichnen. Ministerpräsident Mikola Asarow beteuert, dies sei eine taktische Massnahme, die Regierung werde ihren proeuropäischen Kurs fortsetzen. Faktisch aber beugt sich Kiew dem Druck Putins, der bereits Wirtschaftssanktionen verhängt hat. Der Schwenk in letzter Sekunde sorgt für Empörung. Noch am Vortag hatte die Regierung beteuert, das Abkommen werde unterzeichnet. Sie lügt, wie fast immer. Überrascht darüber ist niemand.
Doch die Absage an die EU ist nicht das Einzige. Der korrupte Apparat, die Verschwendungssucht von Präsident Wiktor Janukowitsch, die Wirtschaftsmisere und der offene Betrug bei den Parlamentswahlen 2012 erbittern die Menschen genauso, womöglich mehr. Janukowitsch veruntreut Millionen, etabliert kriminelle kommerzielle Systeme und reisst sich vor aller Augen die präsidiale Dienstvilla unter den Nagel. Von «autoritärer Kleptokratie» spricht der Schweizer Historiker Andreas Kappeler. Janukowitschs Sohn, ein Zahnarzt, avanciert zu einem der reichsten Männer des Landes.
Es beginnt bescheiden mit Studentenprotesten. Am 24.November 2013 kommt es zur ersten grossen Demonstration, an der Janukowitschs Rücktritt verlangt wird. Die Bewegung wächst, zu ihrem Zentrum und Herzstück wird der Maidan Nesaleschnosti, der Platz der Unabhängigkeit. Diverse Male versuchen Demonstranten, Regierungsgebäude zu stürmen, worauf Einheiten der Polizei-Spezialtruppe «Berkut» Gegenangriffe lancieren, bei denen Dutzende teilweise schwer verletzt werden. Es ist die hohe Zeit der «Tituschki», Gruppen junger Männer im Sold der Regierung, die unter den Augen der Polizei Demonstranten verprügeln. Nachts ziehen plündernde Banden durch die Stadt.
Der Sündenfall von Kiew
Der eigentliche Sündenfall kommt am 20.Februar. Scharfschützen feuern von den Dächern auf Demonstranten: fast immer in die Augen, in die Halsschlagader und in den Nacken ihrer Opfer, in die einzige Lücke zwischen Helm und kugelsicherer Weste. Rund hundert Aktivisten werden getötet, in der Mehrzahl junge Männer.
Es sind grauenvolle Bilder, die sich nicht tilgen lassen. Auf einer Pritsche wird ein Verletzter herbeigetragen, das Blut spritzt ihm aus dem Hals, im Takt seines Herzens, das schon bald für immer aufhören wird zu schlagen. Junge Menschen schreien, beten, weinen. Manche laufen gekrümmt vor Verzweiflung auf und ab, andere starren vor sich hin. Die Leichen werden auf dem Trottoir abgelegt und mit Tüchern bedeckt.
In den Schildern der Toten sind riesige Löcher, gewaltige Einschläge, die auf Spezialmunition schliessen lassen. Die «Berkut»-Einheit verfügt über solche Geschosse. Doch wer schoss und wer den Einsatz befahl, ist bis heute umstritten. Die einen sagen, der russische Geheimdienst FSB habe die Lage eskalieren wollen. Andere sehen die CIA am Werk, Dritte behaupten, die Gegner Janukowitschs hätten sich perfiderweise selbst umgebracht, um die Regierung schlecht aussehen zu lassen. Eine solide Mehrheit der Zeitgeschichtler nimmt an, die Mörder seien Schergen Janukowitschs gewesen.
Der Präsident verliert jeden Rückhalt. Das Parlament beschränkt seine Vollmachten, Versuche Deutschlands und Polens, die Krise beizulegen, scheitern. Die Demonstranten auf dem Maidan beharren auf dem sofortigen Rücktritt des Staatschefs.
Flucht zum Meister
Am 22.Februar ist der Spuk vorüber. Ein Gerücht geht um: Janukowitsch ist geflohen. Alle Widersacher der Demonstranten – Polizei, «Berkut»-Einheiten, Banditen – sind plötzlich weg, wie vom Erdboden verschluckt. Die Revolution hat gesiegt. Das Volk strömt in die Büros und Privatresidenzen der Machthaber. Die Werchowna Rada setzt Janukowitsch ab, im Mai soll neu gewählt werden. Am Fernsehen beschimpft der geflohene Präsident von irgendwoher seine Gegner noch einmal als Schufte und behauptet, er sei noch immer im Amt. Das ist eine Spur zu optimistisch. Nur einen Tag später erlässt das Innenministerium einen Haftbefehl gegen ihn wegen Mordes. Doch da ist Janukowitsch bereits nach Russland geflohen, zu Putin, seinem Schutzpatron. Heute spielt er politisch keine Rolle mehr.
Der Maidan ist die Wiege der modernen Ukraine. Bis 2014 war sie ein durchschnittlicher postsowjetischer Staat: umständlich, mit korrupter Elite und desillusionierter Bevölkerung. Die Vorstellung, Politiker könnten ehrlich, Justiz gerecht und Machtblöcke auswechselbar sein, erschien den meisten absurd. Von Russland fühlte man sich drangsaliert, von den Europäern geringgeschätzt. «Wir werden uns doch nicht wegen der Ukraine zerstreiten», sagte Putin zum amerikanischen Präsidenten Barack Obama auf dem Höhepunkt der Krim-Krise.
Es brauchte die Strasse. Die parlamentarische Opposition konnte der Bürgerbewegung nicht folgen. Der Maidan war die Speerspitze, die Opposition reagierte. Themen und Tonalität gab der Maidan vor. Die Hauptfeinde waren Janukowitsch und seine Partei der Regionen, doch auch an den übrigen Etablierten fand man wenig Gefallen. Die Protagonisten der Orangen Revolution von 2004 tauchten auf dem Maidan auf und auch gleich wieder ab. Wiktor Juschtschenko, einst Präsident, erschien elegant und unpassend im Anzug und redete endlos, Julia Timoschenko, eben erst aus dem Gefängnis entlassen, hielt im Rollstuhl eine markige Rede.
Beide erhielten mageren Applaus, obwohl sie es gewesen waren, die 2004 dafür gesorgt hatten, dass Regierungswechsel – unbekannt in Russland – in der Ukraine zur Normalität wurden. Doch von diesen ewig zerstrittenen Dinosauriern der Macht wollte man 2014 nichts mehr wissen, heute sind sie bedeutungslos.
Die Europäer haben den Maidan nicht gut verstanden. Viele Medien berichteten einseitig, nicht selten befeuert von ideologischer Russlandnähe. Zwei Mythen dominierten: Der Maidan ist rechtsextrem und faschistisch, und der Maidan spiegelt die tiefe Spaltung des Landes. Beides ist falsch. Sicher, in Kiew tauchten üble Gestalten auf, die Nationalisten der Partei Swoboda zum Beispiel oder die Männer der paramilitärischen Organisation Rechter Sektor. Zu sagen hatten sie wenig. Der Maidan vereinte alle Schichten des Volkes: studentische Demokratieanhänger, bewegliche Apparatschiks, Hausfrauen, Offiziere, Lehrer und Geschäftsleute. Die Rechtsextremen zeigten sich gerne und waren auffällig, am Rand blieben sie dennoch. Auch sie sind heute politisch bedeutungslos.
Kraftquelle des Widerstands
Der Maidan war, zweitens, nicht bloss eine Angelegenheit der Westukrainer. Auch der Osten der Ukraine hatte wenig Freude an der Moskauer Ideologie der «russischen Welt»; die Russischsprachigen gehörten in Kiew zu den feurigsten Patrioten. Das «Modell Tschechoslowakei» der einvernehmlichen Trennung von zwei Landesteilen war rasch entlarvt als falsche Analogie: Es gibt keine zwei ukrainischen Staaten, es wird sie nie geben. Die verdrehte Darstellung der Realität in europäischen Medien habe zur «Einsamkeit unseres Protests im europäischen Kontext» geführt, sagt die Schriftstellerin Katerina Mischtschenko.
Beleidigend ist schliesslich die Behauptung, der Westen, vor allem Amerika, habe die Revolution «gemacht». So kann nur reden, wer nicht vor Ort war. Die Annahme, dass es sich bei den Demonstranten um bezahlte, «gedrehte» Anhänger Janukowitschs gehandelt habe (seine Gegner hätte man ja nicht zu bezahlen brauchen), ist albern. Vor allem aber verrät sie alte koloniale Reflexe: Wer die Ukraine nicht als «wirkliches» Land betrachtet, traut ihr auch nicht zu, Eigenständiges zu produzieren, weder gute Politik noch gute Wirtschaft, eine Revolution schon gar nicht. Manche Russen neiden den Ukrainern im Stillen ihre Revolution. Hätten wir doch so etwas fertiggebracht!
Für Putin aber ist der Maidan ein Signal: Die Ukraine entgleitet ihm, der Westen gewinnt, die Menschen wollen weg aus dem Bannkreis Moskaus. Er handelt schnell. Bereits Ende Februar treffen russische Sondereinheiten ohne militärische Abzeichen auf der Krim ein und übernehmen die Kontrolle, am 18.März wird die Region nach einer pseudodemokratischen Volksabstimmung Russland einverleibt. Lange Zeit leugnet Putin die Intervention russischer Truppen, später gibt er sie en passant zu, kokett scherzend. Seht her: Die Lüge ist mein Markenzeichen, gleich neben Intriganz und Brutalität. Aber ich kriege, was ich will.
Acht Jahre später kommt der Überfall auf die Ukraine. Putin ist schockiert, als er sieht, dass sich das gesamte Land gegen die Vergewaltigung wehrt. Es wehrt sich bis heute, nichts beweist besser, wie geeint das Land ist. Die Tapferkeit und den Willen, die Eigenständigkeit zu behaupten, hat sich das ukrainische Volk auf dem Maidan geholt.
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